2. Tag: von Ried-Brig nach Gondo zurück
Der Tag beginnt mit einem Frühstück im Schulhaus. Alle haben gut geschlafen und freuen sich auf den 2. Tag. Nur Edgar ist traurig: sein Fuß ist vom Unfall am Vortag ziemlich geschwollen und er ist vernünftig genug, heute auf den Start zu verzichten. Kerstin wird ihn heute mitnehmen. Er muss nur noch seine Frau Angelika davon überzeugen, dass sie alleine läuft, was sie eigentlich gar nicht will.
Ab 7:00 Uhr beginnt der Jagdstart: die ersten des Vortages starten als Erste und anschließend in dem Abstand des Rückstandes vom Vortag die weiteren Führenden. So ist gewährleistet, dass am Ende der Erste, der ins Ziel läuft, auch insgesamt auf Platz 1 liegt. Um 7:30 werden dann schließlich alle anderen auf den Weg geschickt.
Das Wetter soll heute etwas besser werden als am Vortag, allerdings blühen uns auch heute wieder Regenschauer und insgesamt eine kühle Witterung. Für den 2. Tag muss man wegen der zusätzlichen Höhenmeter und der insgesamt anspruchsvolleren Strecke mindestens eine halbe Stunde mehr einplanen und ich bin gespannt, ob ich meine Form vom ersten Tag bestätigen kann und nach etwa 7 Stunden ins Ziel komme.
Aber erst mal gehe ich es ruhig an, denn nach 500 Metern durchs Dorf mit seinen wunderschönen Walliser Berghäusern geht es schon wieder gut bergauf. Ich hab Floh eingetrichtert, heute zurückhaltend zu starten; trotzdem startet er fast aus der ersten Reihe, wird nach wenigen Kilometern von Alain eingeholt und läuft dann mit diesem zusammen. Natürlich viel zu schnell für seine Verhältnisse.
Der Weg führt wunderschön und mit tollen Ausblicken an der Saltinaschlucht entlang. Nach einer guten halben Stunde komme ich das erste Mal an die Passstraße und werde von Alains Familie frenetisch mit Anfeuerungsrufen und Kuhglockengeläut empfangen. Die Läuferin unmittelbar vor mir meint, ich soll vorgehen, dann werden die Fotos besser. Wie nett!
Die „Goms-Zwillinge“ laufen heute in Blau und Gelb, sind aber nicht weniger auffällig als am Vortag. Hier sind sie nur eine Minute vor mir.
Nach der ersten kleinen Versorgungsstelle geht es auf tollen Single-Trails weiter in Richtung Ganterschlucht mit Blick auf das riesige Betonbauwerk der Ganterbrücke. Sie wurde 1980 fertig gestellt und ist mit 678 Metern Länge und 150 Metern Höhe die höchste Talbrücke der Schweiz und sieht ziemlich beeindruckend aus. Wir laufen zunächst im Tal unten durch, am Ganterbach entlang auch unter der alten Brücke durch und dann in einer Schleife rauf bis zur Versorgungsstelle, die direkt unterhalb der neuen Brücke aufgebaut ist.
Die Schwarznasenschafe schauen unserem Treiben verständnislos zu. Es hat wieder zu regnen angefangen und ist ziemlich kalt, so dass sie das einzig Richtige tun und sich zusammen rotten.
Nach der Versorgungsstelle geht es wieder auf phantastisch trailigen Abschnitten durch den Bergwald immer weiter in die Höhe. Ich bin ziemlich alleine unterwegs. Thomas Frühauf hat mich noch vor der Versorgungsstelle überholt und ab und zu taucht ein Läufer von hinten auf, der mich aber nicht einholen kann. Schließlich stoßen wir das zweite Mal an die Passstraße und müssen hier neben der Straße einen Kilometer bis zur nächsten Versorgungsstelle laufen, wo Kerstin und Edgar auf die Läufer warten. Einige Läufer vor allem im vorderen Feld ignorieren das Schild und laufen auf der Straße, was natürlich viel einfacher ist. Sauerei!
Es regnet in Strömen und mir geht’s nicht besonders gut. An der Straße frischt dann auch noch der Wind so stark auf, dass ich meine Jacke anziehen muss. Das wird wohl doch kein besseres Wetter als gestern…
Jetzt geht es ein paar Kilometer bergab in die Tafernaschlucht, die wir anschließend 500 Höhenmeter auf 4 km bis zum Simplonpass hochwandern müssen.
Mir geht’s zunehmend schlechter. Immer wieder muss ich stehen bleiben und verschnaufen. Anfangs versuche ich noch, die etwa hundert Meter vor mir gehenden Hanna und Dieter einzuholen, aber es geht einfach nicht. Auch ein Gel bringt mich nicht wirklich weiter. Der Weg ist extrem schlammig und ich rutsche mehrfach aus (so ist das, wenn die Konzentration nachlässt), neben mir tost lautstark die Taferna und von oben regnet es, was das Zeug hält. Meine Motivation ist gerade am Tiefpunkt – aber es hilft ja nichts: ich muss da hoch!
Birte ist schon 35 Minuten vor mir oben und ist trotz des Regens gut gelaunt. Auch Wilma und Floh kommen gut hoch. Floh begeht allerdings Harakiri. Er weiß, dass ihn nur 7 Minuten von Alain trennen, also versucht er immer wieder, ihn durch Tempoverschärfungen abzuhängen. Aber Alain kennt sich hier aus und geht alles mit, kontert auch seinerseits immer wieder. Er lebt schließlich in Simplon-Dorf und kennt hier jeden Meter, weiß genau, wann er das Tempo forcieren kann und wann besser nicht. Noch kann Floh mithalten (erstaunlich genug), aber wie lange noch?
Wie jedes Jahr hole ich am Simplon-Pass den Dieter ein. Ich bin stehend k.o. und habe ihm momentan nichts entgegen zu setzen. Er ist aber auch nicht viel besser dran. Wir versorgen uns, kurz Durchschnaufen und dann geht es auf der gleichen Strecke wie am Vortag in Richtung Simplon-Dorf. Diesen Abschnitt liebe ich! Es geht leicht bergab, die Wege sind trotzdem anspruchsvoll, insbesondere bei der heutigen nassen Witterung und man kann wunderbar laufen.
Na ja, wenn man fit wäre. Dieter muss ich ziehen lassen, rufe ihm nur noch zu: „wir treffen uns dann am Furggu“ (dort habe ich ihn noch jedes Mal eingeholt). Hanna wird jetzt sehr langsam und ich überhole sie ziemlich bald. Und während die schnellen Läufer Birte, Peter, Werner Jordan (der spätere Sieger), Andrea Huser (die spätere Siegerin) und Floh mit Alain am Fotografen vorbei laufen, warten Kerstin und Edgar schon wieder in Simplon-Dorf auf ihre Läufer.
Floh ist die Anstrengung schon ziemlich ins Gesicht geschrieben. Lange geht das nicht mehr gut. Alain macht einen wesentlich lockereren Eindruck. Eigentlich wäre er jetzt hier zu Hause. Roland ist den beiden auch schon auf den Fersen. Er macht heute ein sagenhaftes Rennen!
Ich komme ein halbe Stunde später in Simplon-Dorf an und werde herzlich von den Damen an der Versorgungsstelle begrüßt, die mich ja schon kennen.
Es geht mir wieder besser. Aber zwischen Rotwald und Simplon-Dorf habe ich ziemlich viel Zeit verloren. Egal, Hauptsache, die Zeitlimits liegen in weiter Ferne (auf dem Simplonpass 4,5 Stunden – dort war ich nach 3:15 und in Gabi, das jetzt nur noch 3 km entfernt ist, 6,5 Stunden – dort komme ich nach 4:50 an).
Kurz die Straße durchs Dorf und dann die ziemlich verschlammte und sehr rutschige Strecke runter nach Gabi. Ich bin wieder viel besser drauf und passe gut auf, so passiert mir nichts.
Dieter ist kurz vor mir in Gabi und schon weg, als ich dort eintreffe. Ich hole noch eine Läuferin ein, die Knieprobleme hat und abwärts sehr vorsichtig laufen muss. Sie ist allerdings topfit und läuft mir auf das Furggu erst mal davon.
Ich verabschiede mich von Kerstin (wir sehen uns erst im Ziel wieder) und mach mich an die Aufholjagd auf das Furggu. Dies ist einer der heftigsten Streckenabschnitte des Gondo-Marathons, den wir Läufer der Tatsache zu verdanken haben, dass Brigitte ja die 42 km zusammen bekommen musste, was durch die Gondoschlucht niemals möglich gewesen wäre. Dadurch kommen wir aber auch in den Genuss eines absolut genialen Downhills. Auf nur 3 km geht es 650 Höhenmeter bergauf, also extrem steil. Ich bin nicht so schnell wie sonst, trotzdem hole ich Dieter kurz vor der Hälfte (gut zu merken: dort steht eine kleine Kapelle) ein. Er rastet hier kurz und ich stürme weiter. Meine Bestzeit an diesem Anstieg sind 42 Minuten. Heute brauche ich 50 Minuten, was immer noch ziemlich gut ist. Die Läuferin mit den Knieproblemen hole ich nicht ein, aber die Goms-Zwillinge. Patricia ist schon fast oben und wartet auf Josianne, die nicht ganz so schnell ist.
Hier oben ist die vorletzte Versorgungsstelle. Das Weidegatter wird sogar für uns geöffnet. Noch 9 km bis ins Ziel. Es ist nach wie vor sehr nass und ich will nicht riskieren, dass die Kamera einen Schaden bekommt, lasse sie also eingepackt. Ich weiß, dass ich jetzt einen Vorsprung von ca. 10 Minuten auf Dieter haben müsste, mal sehen, wie lange der hält. Da es mir aber jetzt wieder ziemlich gut geht und ich mich so richtig auf den Super-Downhill freue, der jetzt kommt, halte ich mich gar nicht lange auf, überhole kurz später die Läuferin mit dem schlimmen Knie und stürze mich in den Downhill. Na ja, ganz so ist es auch wieder nicht, denn alles ist derartig nass und schlammig, dass ich schon äußerst vorsichtig laufen muss.
Es macht einen riesigen Spaß. Den einen oder anderen Läufer vor mir kann ich noch überholen und auch die heftigen Gegenanstiege machen mir nicht viel aus. Aber man muss auf der Hut sein: an einer Flussüberquerung in einer steilen Schlucht springe ich auf einen wasserüberspülten Stein und rutsche sogleich ein Stück Richtung Abgrund. Mit einem schlagartig um 20 Schläge erhöhtem Puls laufe ich weiter. Gerade noch mal gut gegangen!
Natürlich erkenne ich auch sofort die Stelle wieder, an der ich vor 2 Jahren gestürzt bin. Hier wechsle ich kurz in den Gehschritt, um kein Risiko einzugehen. Weiter unten im Wald treffe ich auf Alexander, der mit einer sehr auffälligen Brille und einem noch auffälligeren Hut läuft. Er ist zum ersten Mal hier und fragt mich, ob wir denn noch auf der richtigen Strecke wären. Tatsächlich war schon längere Zeit keine Markierung mehr, aber ich kann ihn beruhigen: alles im grünen Bereich. Als es wieder steiler bergab geht, laufe ich ihm davon.
Währenddessen kann Kerstin schon viele Läufer in Gondo begrüßen: zunächst die schnelle Birte, die nach 6:03:58 als Zweite ihrer Altersklasse und als 5. Frau insgesamt ins Ziel stürmt. Dann Alain, der von seiner Familie begeistert empfangen wird und mit 6:26:51 als 7. seiner Altersklasse einläuft. Floh konnte noch bis aufs Furggu mithalten, musste aber dann dem hohen Tempo Tribut zollen und Alain ziehen lassen. Die Wilma kommt nach 6:28:51 und wird 3. Ihrer Altersklasse. Roland stürmt mit 6:35:34 ein und schnappt sich den 3. Platz seiner Altersklasse noch vor Thomas Frühauf (Wahnsinn: Thomas war diesmal insgesamt eine Stunde schneller als letztes Jahr und kommt nur auf Platz 4 – letztes Jahr hatte er gewonnen!). Dann kann Edgar seine Geli begrüßen, die mit 6:44:08 ebenfalls eine tolle Zeit hinlegt.
Und dann taucht endlich Floh auf, der richtig Zeit verloren hat und nach 6:55:26 immerhin noch unter 7 Stunden das Ziel erreicht. Damit wird er 11. seiner Altersklasse.
Er ist völlig fertig, aber nach einer kurzen Erholungspause kann er schon wieder lachen und die Glückwünsche entgegen nehmen.
Ich überwinde derweil die gefährlichen, weil nassen Steinstufen auf den letzten 1500 Metern dieser Etappe und hole kurz vorm Ziel noch die immer blendend gelaunte Stephanie ein. Jetzt überhole ich sie natürlich nicht mehr und wir laufen gemeinsam ins Ziel.
Das hat doch länger gedauert als gedacht. 7:25:42 zeigt die Uhr an, was mir den Platz 15 (von 25) in meiner Altersklasse sichert. 2 Läufer waren nicht mehr angetreten. Dieter war angesichts der Streckenverhältnisse lieber vorsichtig und kommt nach 7:33:36 als 18. ins Ziel.
Es ist kalt und so beeile ich mich, unter die Dusche zu kommen. Danach genehmige ich mir erst mal eine Massage und lass mir von Floh von seinen Erlebnissen erzählen. Schließlich startet die Siegerehrung. Erstaunlicherweise ist es trocken, oft genug schon hatten wir bei der Siegerehrung strömenden Regen.
Anstelle einer Medaille gibt es in Gondo einen Bergkäse (1 kg). Die Sieger erhalten neben einem Preisgeld 2 Flaschen Wein. Später besorgen wir für Birte noch einen Käse, denn als Zweite hat sie ja „nur“ den Wein und das Geld bekommen.
Im Festzelt wird dann noch gefachsimpelt und gemeinsam mit den Schweizern gesungen und auf den Bänken getanzt (ohne mich, das wär mir jetzt zu viel) und Floh und Alain machen sogar bei der Polonaise mit. Während der Feier kommen die Kortykas mit Sigrid und Marion völlig durchnässt, aber glücklich an. Mit 10:14 liegen sie um Einiges über dem Limit von 9 Stunden. Ihren Käse bekommen sie trotzdem und in der Ergebnisliste stehen sie auch. Sowas gibt es eben nur hier.
Das Abendessen mit Brigitte im Stockalperturm gehört mittlerweile schon dazu und so lassen wir den Abend bei sehr guten Gesprächen ausklingen. Wie immer war es eine wundervolle Veranstaltung, die trotz des schlechten Wetters riesig Spaß gemacht hat. Die Betreuung auf der Strecke ist absolut vorbildlich und die Begeisterung der lokalen Zuschauer kennt keine Grenzen. Nicht ohne Grund komme ich immer wieder hierher (und Dieter schon zum 8. Mal!). Auch Floh hat ein breites Grinsen im Gesicht. Für ihn war dies das absolute Highlight des Jahres und er begreift selber nicht, wie er diese Leistung abrufen konnte.
Wendel hat übrigens 7:40:33 gebraucht (Platz 21) und sein Kumpel Peter war nach phantastischen 7:02:04 im Ziel (Platz 13). Die „Goms-Zwillinge“ Josianne und Patricia kommen in 7:43:17 an und Hanna war nach 8:14:10 im Ziel. Fast alle haben dieses Mal nahezu eine Stunde länger gebraucht als am ersten Tag.
Gesiegt haben Werner Jordan (4:10:34 und 4:27:06) und Andrea Huser (4:23:39 und 4:56:43). Die mehrfache Siegerin der letzten Jahre, Anita Lehmann hat diesmal den 2. Platz belegt. Die frühere Berglaufmeisterin Birgit Lennartz, die hier zum ersten Mal gestartet ist und am ersten Tag noch Platz 4 bei den Frauen belegt hatte, musste am zweiten Tag in Gabi aufgeben.
Am nächsten Tag wachen wir bei schönstem Sonnenwetter auf. Das ist wieder mal typisch! Aber wir freuen uns trotzdem, denn jetzt haben wir ja noch eine Woche Urlaub in der schönen Schweiz. Über den Simplonpass geht es wieder ins Wallis und erst mal nach Leukerbad zum Entspannen.