Etappe 4: Landeck – Samnaun
Der Streckenchef hat sich am Vorabend kaum noch getraut, eine Wettervorhersage zu machen. Es soll weitgehend trocken bleiben und ab und zu soll die Sonne raus kommen. Na, so richtig kann ich ihm nicht trauen, ziehe aber trotzdem keine Jacke an, sondern nehme heute die Armlinge, da es tatsächlich trocken ist.
Beim Frühstück setzen sich 3 Teilnehmer aus Passau zu uns an den Tisch. Schnell kommt raus, dass das Tina Fischl und ihr Mann Alex, sowie deren Freundin Gabriele Pauli (kein Witz!) ist. Tina hatte ja den ersten Tag gewonnen und ist am 2. und 3. Tag Zweite geworden. Derzeit liegt sie im Gesamtklassement auf Platz 2 hinter Nuria Picas. Alex kommt in seiner Klasse immer unter die besten 10 und Gabi ist auch sehr gut dabei. Da haben wir ja richtige Promis bei uns am Tisch! Jetzt verstehe ich auch, warum Tinas Tasche so wahnsinnig schwer war (ich hab sie ihr runter getragen): da sind die ganzen Geschenke und Pokale drin!
Die Kerstin vom Ostseeteam hat den Vortag in 6:31:12 geschafft. Heute kommen wieder die Speedcross zum Einsatz, denn die Fellcross sind nicht ganz trocken geworden und bei so langen Strecken wie heute (fast 46 km) gefallen mir die Speedcross wegen der stärkeren Dämpfung besser. Außerdem ist es trocken (zumindest vorläufig).
Wegen der langen Strecke (mit immerhin 2844 Hm) starten wir heute bereits um 7:00 Uhr. Eine kleine Streckenänderung müssen wir heute „verkraften“: da wegen Steinschlaggefahr eine Zufahrtsstraße gesperrt ist, dürfen wir nicht gleich nach 1,5 km nach oben, sondern müssen erst mal 5 km auf dem – recht langweiligen – Fahrradweg neben dem Inn leicht wellig entlang laufen, bis es über eine Wiese auf die eigentliche Bergstraße geht, die denn auch recht schnell in einen Wanderweg mündet.
Ich starte wieder aus der letzten Reihe, weil meine Beine doch etwas schwer sind und ich keine Lust habe, gleich am Anfang schnell zu laufen. Bis auf den Wiesenanstieg ist der Weg auch erst mal breit genug, um zu überholen. Am Start ist Kati vor mir (jawohl, sie startet auch heute wieder – unverdrossen! Im Gegensatz zu Martin, der heute mit Kerstin als Zuschauer unterwegs ist) und mir ist nicht bewusst, dass ich sie bereits auf dem Fahrradweg überholt habe, deshalb wähne ich sie vor mir und bin ganz verwundert, dass ich sie bergauf nicht einhole. Kann ich auch nicht, denn sie ist ja hinter mir!
Es geht erst mal 1645 Höhenmeter bergauf, auf Wanderwegen, Skipisten, an Kühen und der „Speedstrecke“ vorbei direkt ins Skigebiet von Serfaus/Fiss/Ladis. Für den Aufstieg zum ersten Gipfel auf 2432 Metern haben wir 3:45 Stunden Zeit. Heute brauch ich 3 Stunden hoch und bin davon nicht begeistert, denn ich weiß, dass ich die veranschlagten 3 Stunden bis zur Versorgungsstelle 2 ziemlich sicher benötigen werde. Das Zeitpolster ist also nicht besonders groß.
Auf der anderen Seite des Berges ist dichter Nebel. Prompt hat sich eine Läuferin hundert Meter vor mir verlaufen und wird aber bereits von 2 anderen Teilnehmern zurück gerufen. Jetzt heißt es gut aufpassen. Es lässt sich ganz gut laufen, denn es geht nur mäßig bergab. Der Weg ist zwar wieder sehr schlammig, aber damit habe ich keine Probleme. Kurz spitzt sogar die Sonne durch und man kann einen Blick auf das Skigebiet von Serfaus erhaschen.
In der Zwischenzeit sind Kerstin und Martin nach Serfaus gekommen, mit der U-Bahn des autofreien Orts zur Seilbahn gefahren und mit der Gondel hochgekommen. Sie wandern bis zu einem steilen Aufstieg und schauen sich dort wieder die ersten Läufer des Feldes an. Die ersten beiden (Dimitris und Iker) joggen noch hoch, alle anderen gehen bereits, auch Tina Fischl und Nuria Picas.
Als ich nach einem sehr matschigen Abschnitt, an dem ich fast verzweifelt wäre, endlich bei der Gondelstation ankomme, vermisse ich Kerstin. Stattdessen steht Horst da und feuert mich an, aber auch er weiß nicht, wo Kerstin ist. Na ja, denke ich mir, hat sie es vielleicht doch nicht geschafft. An dieser verdammt brutalen Steigung sehe ich dann zuerst Martin mit seiner leuchtend gelben Jacke und dann auch meinen liebsten Fan. Es vergeht eine gefühlte Ewigkeit, bis ich endlich bei Kerstin und einer leckeren Cola ankomme. Detlef ist hier knapp vor mir, aber dafür hab ich momentan keinen Blick.
Erstaunlicherweise kommt auch Christiane erst nach mir hier an. Martin und Kerstin genehmigen sich an der Hauptstation noch einen Kaiserschmarrn und warten auf Kati, die das erste Zeitlimit noch knapp geschafft hat, aber hier auf Anraten der Schlussläufer das Rennen beendet, denn das zweite Limit würde sie nicht mehr schaffen und von der nächsten Versorgungsstelle, die wirklich mitten in den Bergen ist, kommt man nur ganz schlecht weg. Außerdem stehen dort schon lauter Teilnehmer, die das Rennen beenden wollen und die muss man auch erst mal evakuieren. Also stimmt sie zu, mit dem Arzt nach Samnaun zu fahren (Kerstin kann sie ja nicht mitnehmen, denn sie fährt unseren Zweisitzer und Martin ist ja auch noch da).
Ich bin da bereits über sehr nasse und schlammige Wege weiter gelaufen und überhole heute auch Detlef. Irgendwie hat heute jeder einen schlechten Tag. Als es kurze Zeit später auch noch zu regnen anfängt und noch kälter wird, ziehe ich meine Jacke an. Wir sind jetzt immerhin die ganze Zeit auf über 2200 Metern Höhe unterwegs.
Der Boden auf den letzten 500 Metern zur Versorgungsstelle ist durch den tauenden Schnee so aufgeweicht, dass man bei jedem Schritt bis zum Knöchel einsinkt. Es gibt einfach keinen festen Boden mehr und auf der Suche danach komme ich vom Regen in die Traufe (und versinke noch mehr). Das saugt einem die ganze Kraft aus dem Körper. Zusätzlich regnet es wieder in Strömen und es ist ungemütlich kalt. Ich bin heilfroh, irgendwann doch die Versorgungsstelle zu erreichen (zweieinhalb Stunden habe ich von der ersten Versorgungsstelle hierher gebraucht).
Jetzt noch ein längerer Anstieg bis zum höchsten Punkt des Rennens: die Ochsenscharte auf 2787 Metern Höhe (4,5 km) und dann geht es (fast) nur noch bergab. Aber erst mal kommt mein Lieblingsstück: 300 Meter durch einen riesigen Felsengarten.
Zwei Läufer stolpern da vor mir rum und fragen mich, ob ich vorbei will. Ich sage „wenn ich darf“, die beiden: „wenn Du das kannst“, ich: „ich kann das!“, husche vorbei und laufe zügig durch die Felsenlandschaft durch. Klar: stolpern darf ich hier nicht, denn dann brech ich mir alle Knochen, aber ich bin hochkonzentriert und es geht gut. Ich bin begeistert!
Die ersten Schneefelder kommen, wo meine Speedcross wieder ihre Stärken ausspielen können. Kurz vor der Hexenseehütte überhole ich wieder mal Joao Carlos, der nicht so gute Schuhe anhat und in jedem Schneefeld flucht wie ein Rohrspatz.
Da ich mir irgendwann einbilde, oben angekommen zu sein, lass ich von Joao ein Bild machen. Er weist mich allerdings gleich darauf hin, dass das noch nicht der Gipfel ist. Ich will es eigentlich nicht glauben, aber tatsächlich: in weiter Ferne ist der wirkliche Gipfel auszumachen. Also noch mal alle Kräfte gesammelt und teils im Laufschritt und über das letzte große Schneefeld rauf, wo ich mich erst mal ein paar Sekunden an der Schulter vom Rennarzt ausruhen muss. Er lacht und macht dann noch das obligatorische Gipfelbild. Ein Blick zurück – die Landschaft hier ist wirklich sehr karg, hat aber ihre Reize.
Ich verleibe mir noch mal ein Gel ein, denn jetzt kommt ein laaaanger steiler Downhill (über 1000 Hm auf 7 km). Es geht los mit einem mehrere hundert Meter langen Schneefeld. Es sind bereits tiefe Spuren drin, denn der Schnee ist sehr weich und so bleibt nur, in die Knie zu gehen und runter zu rutschen. Da immer wieder Mulden drin sind, muss man auch immer wieder ein paar Schritte machen und überhaupt muss man sehr konzentriert sein, hat die ganze Zeit Angst zu stürzen und es ist sauanstrengend. Dreimal muss ich anhalten und Verschnaufen, bis ich endlich durch bin, aber hinter mir ist gähnende Leere, keiner kommt nach.
Nach weiteren 2 Schneefeldern kommt eine steile Wiese mit hohen Buckeln. Ich frage eine Läuferin vor mir, ob ich überholen darf. Sie meint: „ist die Wiese nicht breit genug?“ Schon, aber ich will auf dem Weg bleiben, denn alles andere ist noch halsbrecherischer. Bis ich endlich auf dem lang ersehnten Forstweg bin, geht es noch zweimal völlig weglos durch die Botanik. In der matschigen Bergwiese versinke ich wieder bei jedem Schritt bis über die Knöchel.
Dann ist es endlich geschafft und ich hab wieder festen Boden unter den Füßen. Sofort ziehe ich meine Jacke aus und genehmige mir noch ein Gel. Und dann geht es weiter abwärts auf der Forststraße, die so manch anderen Teilnehmer zur Verzweiflung bringt.
Endlich kommt dann auch das „10 km to go“-Schild und kurze Zeit später die letzte Versorgungsstelle, die direkt an der Grenze von Österreich in die Schweiz steht. Grenzkontrolle? Fehlanzeige!
Ein Läufer holt mich dort ein und wird deutlich vor mir das Ziel erreichen. So, noch 8 km, die aber nicht ganz einfach sind. Ein Blick auf die Uhr sagt mir, dass eine Zeit unter 9 Stunden sehr unwahrscheinlich wird. Zunächst geht es fast unmerklich bergauf, aber ich bin schon so fertig, dass ich immer nur 200 Meter laufen kann und dann 100 Meter gehen muss. Wie hieß es beim Rennsteig? „Laufen, bis es nicht mehr geht, dann gehen, bis es wieder läuft“ Genau nach dieser Devise verhalte ich mich jetzt. Dieser leicht ansteigende Weg ist schier endlos! Aber irgendwann geht es auch hier bergab und wir erreichen Samnaun-Compatsch. Wir müssen jetzt noch mehrere kleine Ortsteile von Samnaun abklappern und jedes Mal geht es rauf und dann wieder runter. Während ich noch kämpfe, empfängt Kerstin bereits bei mittlerweile recht sonnigem Wetter einige Teilnehmer. Einer wurde unterwegs von einer Kuh (!) angegriffen und zeigt Kerstin seine Narbe am Bauch. Sie fragt, ob er sich auf der Strecke einer Blinddarmoperation unterzogen hat. Nicht zu fassen! Wie gut, dass mir sowas nicht passiert ist, denn auch ich habe keine Angst vor Kühen und keine Hemmungen, mich ihnen auf Tuchfühlung zu nähern. Gut, dass Kati das nicht sieht (sie hat nämlich ziemliche Angst vor Kühen).
Ich komme endlich an der Doppelseilbahn vorbei und weiß: es kann nicht mehr weit sein. Der letzte Kilometer wird ultrahart. Es geht bis ins Ziel mehr oder weniger bergauf und ich merke, eine Zeit von knapp unter 9 Stunden ist doch noch drin. Ich reiß mich also zusammen und laufe schwer atmend und mehr tot als lebendig ins Ziel, wo die Uhr schon 9:00:17 anzeigt. Aber das ist ja Bruttozeit! Auf meiner Uhr steht später 8:59:54, tatsächlich bin ich aber in 8:59:32 angekommen. Tschaka!
Ich bin völlig erledigt und sehe aus wie das Leiden Christi (am Abend wird dieser Zieleinlauf im Video des Tages gezeigt und ich bekomme den größten Szenenapplaus). Heute habe ich es vor Detlef geschafft, der nach 9:07:58 eintrifft. Da geht es mir schon wieder ganz gut.
Das war heute Platz 31 von den verbliebenen 43 in meiner Altersklasse (Detlef hat heute Platz 32). Ich lass mich von Karrie umarmen, die heute nach tollen 8:07:57 als 11. ihrer Klasse ins Ziel kommt. Tina Fischl, die wir später mit Alex treffen, hat heute sogar gewonnen! Sie erzählt, dass sie Nuria nach der letzten Versorgungsstelle eingeholt hat und diese ihr Tempo nicht mehr mitlaufen konnte. Und dann hat sie sich vorgestellt, sie sei zu Hause bei einem Tempolauftraining und ist die restlichen 6 km in einem Schnitt von 3:45 gelaufen – unvorstellbar! Sie war schließlich in 5:55:48 im Ziel, knappe 4 Minuten vor ihrer spanischen Konkurrentin, die aber trotzdem die Gesamtwertung gewinnt.
Die Abschlussparty findet wieder auf der Bergstation der Doppelseilbahn mit einem super tollen Buffet statt. Nach der Siegerehrung bekommen wir alle unser hart verdientes Finisher-Shirt und dürfen uns zum Gruppenfoto aufstellen.
Das war diesmal hart erkämpft! Die ersten 2 Tage war ich jeweils etwas schneller als vor 2 Jahren. Den dritten Tag kann man nicht vergleichen, denn da bin ich damals ja die Alternativstrecke mit weniger Höhenmeter gelaufen. Am letzten Tag allerdings war ich 25 Minuten langsamer als beim letzten Mal. In Summe sind es 29:01:58 geworden und damit nur 6 Minuten länger als vor 2 Jahren. Die Gesamtwertung ist noch nicht Online; ich kann also nicht sagen, auf welchen Platz ich letzten Endes gekommen bin. Ist ja auch völlig egal.
Es war wieder eine tolle, perfekt organisierte Veranstaltung und ich hatte trotz des miesen Wetters meinen Spaß. Aber ob ich sowas noch mal mache? Wer weiß …