1. Tag: von Gondo nach Ried-Brig

Die Wetteraussichten für die zwei Tage sind leider sehr mies und so ist es auch ziemlich kühl und regnerisch am Samstagmorgen, als sich die kleine Läuferschar im Startgelände versammelt und der Streckenchefin Brigitte beim Briefing zuhört. Brigitte hat früher an Orientierungsläufen auf Weltklasseniveau teilgenommen und nimmt heute noch sehr erfolgreich an diversen Berglauf- und Tourenskiveranstaltungen teil. In Gondo konnte sie aber noch nie mitlaufen, denn wer soll sich sonst um den reibungslosen Ablauf der Veranstaltung kümmern? Mit ihrem Team sorgt sie jedenfalls für eine mustergültige Markierung der Strecke mit Flatterbändern, Fähnchen und Kreidespray, sodass man sich eigentlich nicht verlaufen kann. Allerdings passiert es trotzdem immer wieder, dass der eine oder andere Läufer mit Tunnelblick eine Abzweigung verpasst – so auch diesmal wieder.

Schwere Wolken hängen tief über dem Ort, als das Startkommando von Brigitte ertönt. Ich habe das Finisher-Shirt vom letzten Jahr in der mutigen Farbe Rosa an (wenigstens einmal möchte ich es angezogen haben …). Vom ersten Schritt an geht es bergauf und Floh und ich überholen nach wenigen Metern den gut gelaunten Wendel, der wie immer von Kopf bis Fuß in Kompressionskleidung der Firma X-Bionic gekleidet ist (Werbeslogan: macht aus Schweiß Energie!). An diesen beiden Tagen scheint das aber nicht so gut zu funktionieren, denn Wendel ist deutlich langsamer als in den vergangenen Jahren. Vielleicht ist es einfach zu kühl zum Schwitzen …

Nach hundert Metern auf der Hauptstraße, die für uns 10 Minuten lang gesperrt wird, geht es bereits rauf auf das Dach der Straßengalerie. Auf den folgenden 7 km bis zum kleinen Weiler Gabi werden wir mehrmals die Straßenseite wechseln, aber mit einer kleinen Ausnahme, die einer Baustelle geschuldet ist, niemals auf der Straße selbst laufen. Vielmehr folgen wir dem „Stockalperweg“, benannt nach dem Kaufmann Kaspar Jodok von Stockalper, der mit dem Transportmonopol auf der Strecke über den Simplonpass im 17. Jahrhundert ein reicher Mann wurde. Die Schlucht ist hier jedoch so eng, dass wir immer hart neben, über oder unter der Straße laufen müssen und sogar einen 500 Meter langen Verbindungsstollen durch das Fort Gondo durchqueren, das im ersten und zweiten Weltkrieg als Militärstützpunkt diente.

Kurz dahinter bereits die erste kleine Versorgungsstelle. Floh ist offenbar gut drauf und mir bereits vom Start weg davon gelaufen. Noch ist er in Sichtweite, aber nicht mehr lange. Hanna hab ich bereits vor dem Fort überholt, wo sie nach ihrer Regenjacke kramt. Sie ist stark gehandicapt, da sie sich bei einem Sturz vor wenigen Wochen das linke Handgelenk gebrochen hat und außerdem mit Knieproblemen zu kämpfen hat. Letztes Jahr hat sie ihre Altersklasse noch gewonnen und ich hatte nicht die geringste Chance, ihr Tempo zu laufen. Diesmal bin ich beide Tage schneller als sie.

Kurz nach der Versorgungsstelle kommen wir zu einer modern geschwungenen Brücke über die Diveria, wo Kerstin bereits viele Läufer abgelichtet hat. Leider regnet es die ganze Zeit und es gibt wenig Licht, sodass viele Bilder unscharf werden. Auffällig sind die „Goms-Zwillinge“ Josianne Wirthner und Patricia Carlen, die im Blau-Pinkfarbenen Dress eine gute Figur abgeben und an dieser Stelle noch einige Minuten vor mir und Floh laufen.

Bis Gabi ändert sich nichts an der Reihenfolge, aber der Abstand zu den „Goms-Zwillingen“ und zu Dieter wird kürzer. Hanna ist hier ca. 2 Minuten hinter mir.

Mir geht’s sehr gut und so kann ich auf der teilweise bereits sehr schlammigen Strecke zwischen Gabi und Simplon-Dorf ein paar Mitstreiter überholen. Ich „freue“ mich schon darauf, auf diesem Schlamm am zweiten Tag bergab zu laufen …

In Simplon-Dorf, wo wir ein paar hundert Meter des auf dieser Strecke sehr seltenen Asphalts laufen dürfen, ist die Reihenfolge noch intakt: erst kommt „Die Wilma“, dann Josianne und Patricia (dazwischen laufen noch Peter und Angelika und Edgar mit Simone), Dieter, Floh und dicht hinter Roland, der Floh erst mal ziehen lassen musste, komm ich. Hinter mir Hanna mit ihrem Begleiter Dieter, schließlich Thomas Frühauf, der mich heute noch locker überholen wird und Markus Fischer, den ich auch schon jedes Jahr gesehen habe.

In Simplon-Dorf ist eine gut bestückte Versorgungsstelle, aber außer Cola, Wasser und Orangen brauche ich nichts. Gute 9 km bin ich unterwegs und mit 1:20 hab ich eine brauchbare Zeit. Es geht schließlich die ganze Zeit bergauf. Aber wie immer ist es die pure Freude, auf diesen wunderbaren Wegen zu laufen, die zu 80% aus Single-Trails bestehen. Nächste Fotostation ist das markante Gebäude vom Alten Spittel, ursprünglich von Stockalper als Wohnhaus und Unterkunft gebaut.

Davor ist ein großes Festzelt aufgebaut, offenbar findet dort heute eine Hochzeit statt (auch toll bei dem miesen Wetter). Mein Lieblingsfan Kerstin steht trotz Regens eine gute Dreiviertelstunde da und macht Fotos von allen Teilnehmern. Floh hat die „Goms-Zwillinge“ bereits überholt und hängt sich an Angelika und Edgar dran

Ich genieße den weiteren Verlauf bis zum Simplon-Pass und liefere mir einen heißen Positionskampf mit Roland, den ich aber letztendlich verliere. Im blauen Shirt läuft Alain Arnold, dem Lokalmatador aus Simplon-Dorf. Er ist genauso alt wie Floh und zusammen mit ihm der jüngste (männliche) Teilnehmer bei diesem Lauf (insgesamt die Jüngste  ist Sara). Floh wird ihn am zweiten Tag noch näher kennenlernen.

Kurz hinter Simplon-Dorf habe ich versehentlich meine Uhr gestoppt. Das merke ich erst nach über einer halben Stunde. Mist – jetzt habe ich gar keine Übersicht mehr, wie lange ich unterwegs bin und wie ich in der Zeit liege. Aber anhand der Kilometermarkierungen an den Versorgungsstellen kann ich mir ausrechnen, dass mir etwa 4 – 5 km auf der Uhr fehlen. Na gut.

Unter den Augen des im Nebel schwach zu erkennenden Steinadlers, dem Wahrzeichen des Simplon-Passes erreichen wir die Versorgungsstelle am Pass. Hier ist das erste Zeitlimit mit 4 Stunden, von denen ich mit 2:38 aber meilenweit entfernt bin. Ca. 17 km und 1200 Hm sind geschafft. Mit knapp unter 2000 Metern Höhe sind wir aber noch lange nicht am höchsten Punkt des Rennens, der ist erst auf dem Bistinenpass bei 2400 Metern. Noch 7 km bis dorthin.

Ich verpflege mich erst mal gut, begrüße den Rennarzt Pablo und plaudere ein wenig mit ihm und Brigitte. Roland ist schon weiter gestürmt. Ihn werde ich heute erst wieder im Ziel sehen.

Und dann tauche ich ein in eine nebelverhangene Bergwelt. Ab und zu sehe ich noch einen Teilnehmer verschwommen im Nebel, aber meistens fühle ich mich ziemlich alleine und bin froh, dass Brigitte die Markierungsfähnchen sehr eng gesteckt hat. Verlaufen (fast) unmöglich, auch an der Stelle, wo wir den Wanderweg verlassen und neben einem alten Bewässerungskanal weglos bis zum nächsten Säumerweg laufen müssen (Originalton Floh: „und ich dachte noch: hier ist ja der Weg total überschwemmt!“).

Kurz vor dem Bistinenpass tauchen die pinkfarbenen Jacken von Josianne und Patricia vor mir auf. Wenige Minuten später habe ich sie überholt. Sie haben wohl doch etwas zu schnell begonnen. Kurze Zeit später taucht dann auch schon der Bistinenpass mit seiner kleinen Versorgungsstelle auf. Diese Menschen machen wirklich einen tollen Job!

In der Zwischenzeit habe ich meine Jacke angezogen, denn es ist wirklich ziemlich kalt im Nebel. Am Abend erfahre ich, dass auf dem Bistinenpass Null Grad gewesen sein sollen. So kalt kam es mir dann aber doch nicht vor.

3:54 habe ich bis zum Bistinenpass gebraucht. Jetzt kommt ein langer und steiler Downhill Richtung Rhonetal, den ich betont zurückhaltend angehe. Im Vorjahr bin ich hier zu schnell gelaufen und habe es später gebüßt. Das soll mir nicht noch mal passieren. Viele Fotos mache ich nicht mehr, weil es schon wieder in Strömen zu regnen anfängt. Ganz untypisch, denn auf dieser Seite des Berges ist sonst immer prima Wetter. Tatsächlich bessert sich das Wetter, je näher wir an Ried-Brig kommen. An der Versorgungsstelle Schratt (nächstes Zeitlimit mit 7 Stunden, ich brauche ca. 5:20 bis dorthin bei Kilometer 35) ziehe ich denn auch die Jacke aus, denn es wird zusehends warm. Kurz vorher hole ich überraschend noch Angelika und Edgar ein. Er ist am Bistinenpass umgeknickt, hat sich das Fußgelenk verletzt und kann nicht mehr besonders gut laufen. Das klingt nicht gut.

Mit zwei giftigen Gegenanstiegen landen wir schließlich nach einem extrem steilen Abstieg an der Saltina und ich sehe schon von oben, dass wir wieder nicht durch den Fluss gehen dürfen. Jahrelang wurde die Strecke durch die Saltina geführt, in Erinnerung daran, dass bei dem schlimmen Unwetter 2000 die Brücke von den Wassermassen weggerissen wurde. Mittlerweile ist es den Feuerwehrleuten aber meistens zu gefährlich, die Läufer durch das Wasser zu lassen, weil der Staudamm oberhalb dieser Stelle jetzt ein automatisches Überlaufventil bekommen hat und somit nicht mehr vorhersagbar ist, wann ein gefährlicher Schwall Wasser ankommt. Dieses schöne Highlight des ursprünglichen Gondo-Events wird wohl wie der Name der Vergangenheit angehören. Sehr schade!

An der neu gebauten Brücke ist die letzte Versorgungsstelle (Kilometer 40). Nach wenigen hundert ebenen Metern neben einem idyllischen Wasserlauf kommt dann das „Highlight“ der anderen Art: scharf rechts und extrem steil eine Moräne rauf, die zu allem Übel jetzt auch noch im strahlenden Sonnenschein getaucht ist. Es sind wohl nur 100 Höhenmeter, aber die sind so brutal, dass man es nie wieder vergisst. Es gibt wohl keinen, der hier nicht keucht. Kurz bevor wir die Straße in Ried-Brig erreichen, haben nette Anwohner noch eine kleine Wasserstelle aufgebaut. Das nehm ich doch gerne noch an, denn das Getränk in meinem Rucksack ist mittlerweile warm und schmeckt nicht mehr wirklich.

In der Zwischenzeit hat Kerstin schon mal für Floh ein Bett im Zivilschutzbunker unter dem Schulhaus reserviert. Ich habe die letzten 3 Jahre auch dort geschlafen und wenn es auch ganz lustig war, so will ich diesmal doch ein ruhigeres und bequemeres Bett im Hotel Simplon haben, das praktischerweise nur 50 Meter vom Ziel entfernt ist.

Und dann trudeln sie alle ein: Alain unter dem frenetischen Jubel seiner Familie und Freunde nach 5:44, Die Wilma nach tollen 5:48, Peter nach 5:49, Floh nach unglaublichen 5:51 (bei der schlechten Vorbereitung – nicht zu fassen!), Roland nach 6:03 und ich laufe nach 6:30 ein und bin hochzufrieden.

22 Minuten schneller als im Jahr davor. Da hab ich mir das Rennen wirklich gut eingeteilt. Nur bei meiner ersten Teilnahme 2011 war ich 5 Minuten schneller gewesen, sonst immer langsamer. Während ich meine wohlverdienten Glückwünsche entgegen nehme, kommen Angelika und Edgar nach 6:33 ins Ziel und kurz darauf nach 6:34 die „Goms-Zwillinge“ Josianne und Patricia.

Dieter, den ich heute schon sehr früh kurz nach Simplon-Dorf überholen konnte, läuft nach 6:55 ein. Hanna ist nach 6:57 und Wendel nach 7:18 im Ziel. Wir fachsimpeln noch ein wenig mit den schnellen Läufern Birte (5:18) und dem Lokalmatador Tissi aus Blatten (4:28), lassen uns eine Bratwurst schmecken und empfangen zu guter Letzt noch die Kortykas mit Sigrid und Marion, die als Letzte in 8:41 das Ziel erreichen. Damit haben sie zwar das Zeitlimit von 8:15 nicht ganz geschafft, aber das ist bei dieser familiären und liebevollen Veranstaltung eigentlich auch egal.

Bei einem guten Abendessen in der Turnhalle des Schulhauses lassen wir den Tag ausklingen.

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