Hamburg Marathon 21.04.2013

Der unfassbare Bombenanschlag beim Boston-Marathon ist gerade mal eine knappe Woche alt. Trotzdem stehen gut 15.000 Teilnehmer am Start des Hamburg-Marathons, entschlossen, sich durch die völlig sinnlose Tat zweier hasserfüllter Verrückter ihr liebstes Hobby nicht vermiesen zu lassen. Ich gehöre auch dazu. Angst habe ich keine, aber ich bin wütend. Wütend, dass es die wunderbar unbeschwerten großen Stadtmarathons erst mal nicht mehr geben wird. Wütend, dass man nun immer mit einem mulmigen Gefühl an den Start oder in den Zuschauerbereich geht. Wütend, dass völlig durchgeknallte Idioten immer weitere Bereiche unseres täglichen Lebens bestimmen wollen. Die Täter sind zwar mittlerweile gefasst, bzw. einer ist dabei ja umgekommen, aber die große Gefahr liegt jetzt bei den Nachahmungstätern, die gesehen haben, dass man bei großen Stadtmarathons jede Menge unschuldiger Menschen verletzen und töten kann.

Klar: jetzt in Hamburg ist die Gefahr verschwindend gering, dass etwas passiert. Trotzdem ist die erhöhte Polizeipräsenz deutlich zu spüren. Der Start-/Zielbereich ist auch deutlich besser gesichert als in den letzten Jahren.

Aber nun zu den erfreulichen Dingen. Dieses Jahr ist der Start und das Ziel wieder am Messegelände wie früher und die Jahre, in denen damit herumexperimentiert wurde, sind hoffentlich vorbei, denn dies ist wirklich die beste Lösung. Ein Start am Heilig-Geist-Feld wie in den letzten 3 Jahren ist diesmal auch gar nicht möglich, denn in Hamburg ist Dom. Für alle, die es nicht wissen: in Hamburg ist Dom keine Kirche, sondern ein Volksfest. Unser Hotel ist witziger weise direkt davor und wir haben von unserer Terrasse aus einen genialen Blick. Am Freitagabend genießen wir das Hochfeuerwerk von einem Logenplatz aus.

Am Samstag geht’s wie immer auf die Messe, wo wir wieder mal unseren alten Bekannten von Grosse-Coosmann-Reisen, Peter Springborn treffen.

Er war unser Reiseleiter 2002 auf Hawaii. Man sieht ihm nicht an, dass er schon über siebzig Jahre alt ist. Vielleicht sehen wir uns ja wieder beim Chicago-Marathon, von dem er uns in den höchsten Tönen vorschwärmt.

An der Absperrwand zur Startnummernausgabe hängt eine große Tafel, auf der alle Läufer für Boston unterschreiben können. Ich verewige mich auch darauf. Später wird die Tafel nach Boston geschickt, zusammen mit Spenden, die für die Opfer gesammelt werden.

Am nächsten Morgen ist Marathontag. Unser Hotel ist nur 500 Meter vom Start entfernt und auf meinem Weg dorthin begegne ich den Spitzenläufern aus Kenia, die sich bereits warmlaufen. Der Läufer in hellblau ist übrigens der spätere Sieger Eliud Kipchoge.

Das Wetter ist ein Traum, wie (fast) immer in Hamburg: ca. 10 Grad und strahlend blauer Himmel. Der Startbereich ist schon gut gefüllt. Während ich einen ruhigen Busch suche (na wofür wohl …), wird eine Schweigeminute für die Opfer von Boston eingelegt. Ich habe danach noch 10 Minuten, um in meinen Startblock zu kommen und schaffe es kaum, so voll ist es schon. Es klappt nur, weil Block D so weit vorne liegt. Neben mir sind zwei Läufer, sagt der eine zum anderen: „musst Du auch in Block N“? Das ist der hinterste Block, das werden die wohl nicht mehr schaffen.

Ich starte heute mit sehr gemischten Gefühlen. Drei Wochen lang hat eine schwere Bronchitis mein Lauftraining auf null km gesetzt und dann hatte ich nur eine knappe Woche, um wieder auf Touren zu kommen. An längere Läufe war da nicht mehr zu denken, zumal das Atmen immer noch etwas schwer fällt. Eins ist klar: ich kann mir heute nicht mehr und nicht weniger vornehmen als anzukommen, egal in welcher Zeit. Zum ersten Mal bin ich mir unsicher, ob ich das überhaupt schaffen werde. Die Zuversicht, die ich am Start ausstrahle, täuscht also.

Aber ich lass mir die Laune nicht verderben. Wir tragen fast alle ein gelbes Band um unser Handgelenk, auf dem steht: "Run for Boston". Der Startschuss fällt, die Luftballons steigen auf, nach nur eineinhalb Minuten bin ich über die Startlinie (die letzten werden heute dafür 18 Minuten brauchen!) und stürze mich zusammen mit ca. 15.000 weiteren Laufbegeisterten in das Abenteuer. Nach weniger als einem Kilometer kommen wir am Dom vorbei. Links ist ein kleiner Park, den die ersten sofort zur Pinkelpause nutzen.

Und dann beginnt auch schon die Reeperbahn, die so heißt, weil die Seeleute früher für ihre Taue (Reepschnüre) eine lange gerade Straße gebraucht haben, um sie auszulegen. Jetzt kennt man die Reeperbahn nur noch für sein Nachtleben.

Wie immer wartet Kerstin vor der Davidswache auf mich. Ich komm viel zu früh, sie hat mich noch gar nicht erwartet. Ein schnelles Bild und weiter geht’s.

Es ist noch erstaunlich leer auf der Straße, aber ich bin halt sehr weit vorne gestartet (ich wollte ja eigentlich auch wieder in einen Bereich um die 3:30 laufen). Da ich recht langsam laufe (knapp unter 6 Minuten pro km), werde ich permanent überholt (das geht heute so bis Kilometer 30!). Ich versuche aber niemanden zu behindern. Für die Nachtschuppen auf der Reeperbahn habe ich jetzt keine Zeit. Weiter geht’s durch St. Pauli, am Rathaus Altona vorbei bis zum Halbmondweg.

Dort laufen wir dann an die Elbchaussee und das Ganze wieder zurück. Ziemlich bald kommen Hafen und Köhlbrandbrücke ins Blickfeld.

Nach der Versorgungsstelle bei Kilometer 10 (nach knapp unter einer Stunde) geht es auch schon runter zum Fischmarkt. Der Blick auf den Hafen ist wieder mal genial. Ich bleibe kurz stehen für ein Foto und werde von den Zuschauern sofort angemeckert: „Mensch Thomas, Du sollst doch laufen!!“

Jetzt geht es auf das erste große Stimmungsnest an den Landungsbrücken zu. Bei Kilometer 12 steht Kerstin schon seit geraumer Weile und wartet auf mich. Kurzer Blickkontakt, winken und schon bin ich vorbei.

Ein Highlight jagt das nächste. Erst die Baustelle der Elbphilarmonie, dann die Speicherstadt, vorbei am Highflyer (ein Heißluftballon, mit dem man sich Hamburg von oben anschauen kann) und durch den Wallringtunnel am Hauptbahnhof an die Binnenalster und dem Jungfernstieg.

Am Jungfernstieg ist die Hölle los, denn hier ist der erste Wechselpunkt der Staffeln, die dieses Jahr zum zweiten Mal in Hamburg dabei sind. Wenn ich übrigens mal ab und an einen Läufer überhole (passiert sehr selten), dann ist es in der Regel ein Staffelläufer. Verkehrte Welt …

An der Kurve am Jungfernstieg passiert es zum ersten Mal: ein Stich im Rücken, dass es mir fast die Beine wegknickt. Ich hab schon heute früh beim Aufstehen gemerkt, dass ich mir wahrscheinlich wieder mal einen Nerv im Kreuz eingeklemmt habe und durch das Laufen ist das natürlich nicht besser geworden. Da hilft nur Zähne zusammen beißen und leicht vornüber gebeugt Laufen, was bestimmt ziemlich bescheuert aussieht – aber dann tut’s halt nicht so sehr weh.

Wir laufen über die Kennedybrücke weiter an die Außenalster. Ich bleib immer mal zu einem Foto stehen, was die Zuschauer kaum fassen können.

Da kommt auch schon Kilometer 20. 2 Stunden und 1 Minute bis hier, noch liege ich voll im Plan, den ich mir für heute zum Überleben festgelegt hatte. Die Strecke wurde übrigens an mehreren Stellen geändert, viele Kurven wurden rausgenommen und so ist die Strecke für die guten Läufer deutlich schneller geworden. Mir kann’s ja eigentlich egal sein, aber mit der neuen Strecke verliert man auch nicht so schnell die Orientierung wie früher.

Ziemlich genau in der vorher abgesprochenen Zeit komme ich an den nächsten Treffpunkt mit Kerstin: Bahnhof Alte Wöhr bei Kilometer 24,5.

Ich bin schon leicht angeschlagen. Die fehlende Fitness, die noch nicht 100%ig auskurierte Bronchitis und zu allem Überfluss der eingeklemmte Nerv machen sich langsam bemerkbar. Ich bin aber trotzdem so verhalten unterwegs, dass ich außer an den Versorgungsstellen keine Gehpausen machen muss. Dagegen gibt es ab Kilometer 25 bereits die ersten Läufer, die gehen müssen.

Bei Kilometer 27,5 ist die City Nord erreicht und traditionell stehen hier unsere guten Freunde Ute und Burkhard, die gleich ein schönes Foto von mir machen.

Ich fotografiere die beiden zwar auch, bekomme aber sofort die Anweisung: „wir wollen aber nicht ins Internet!“ Na gut. Kurz abklatschen, noch ein paar Fotos und weiter. Ein kleines Mädchen steht am Straßenrand mit dem Plakat: „Umdrehen wär jetzt auch blöd, Thomas“. Da hat sie wirklich Recht!

Kurz darauf kommt mit Ohlsdorf die nördlichste Stelle vom Marathon und wieder ein guter Treffpunkt für Kerstin. Kilometer 30 ist nach 3:07:48 geschafft. Bei City Nord war die zweite Staffel-Wechselstelle, hier kommt schon die Dritte nach nur 5 Kilometern.

Auf dem Rückweg in die Innenstadt sind jetzt doch immer häufiger Läufer zu sehen, die sich zu viel zugetraut haben und endlich kann ich auch mal wieder überholen. Nach der langen Gerade auf dem Maienweg und der Alsterkrugchaussee erreiche ich das nächste Stimmungsnest Eppendorfer Baum und Klosterstern, wo Kerstin schon wieder auf mich wartet. 37 Kilometer sind geschafft.

Nachdem ich das Transparent „STAND UP FOR BOSTON & RUN!!“ passiert habe, kommt nun die schönste Streckenänderung: erstmalig laufen wir wieder wie vor 14 Jahren an die Außenalster. Ich prüfe mal kurz meine Zeit. Das könnte knapp werden mit den 4:30, aber da möchte ich schon gern drunter bleiben! Also heißt es noch mal Kräfte sammeln und etwas schneller laufen.

Mein Vorteil ist, dass ich genau weiß, dass es nach dem Bahnhof Dammtor bei Kilometer 41 noch mal knapp einen Kilometer auf dem Gorch-Fock-Wall bergauf geht. So kann mich das nicht schocken und ich laufe schön konstant hoch – ich muss aber schon ganz schön schnaufen dabei! Dann nur noch eine scharfe Ecke, Kerstin zuwinken, die an der Absperrung steht und dann kommt auch schon der Zieleinlauf auf dem roten Teppich.

Die Uhr mit der Bruttozeit ist noch unter 4:30. Super – das schaff ich! Nach 4:28:25 (Nettozeit) ist es geschafft: mein 8. Hamburg-Marathon liegt hinter mir und es ist der 43. insgesamt.

Ich bin zwar abgekämpft und wie üblich tut alles weh, aber eigentlich geht es mir ziemlich gut. Es war eine sehr gute Entscheidung, nicht so schnell zu laufen. So bin ich doch noch erhobenen Hauptes ins Ziel gekommen. Zwar 52 Minuten langsamer als letztes Jahr, aber immerhin geschafft. Ich bin jedenfalls zufrieden.

In der Versorgungshalle gibt es das obligatorische alkoholfreie Weizen (in Hamburg immer von Krombacher) und auf dem Weg zur Dusche (herrlich warmes Wasser!) komme ich an einem Stand vorbei, wo man Sport-Hypnose machen kann – ob das hilft?

Es war wieder mal eine gelungene Marathonveranstaltung. Die Organisation war perfekt, es gab alles, was das Läuferherz begehrt (inkl. Cola und Gels von High 5 ab Kilometer 20) und die Zuschauer in Hamburg sind eine Klasse für sich: 750.000 waren da – mehr gibt es nur noch in New York.

Sieger geworden sind der Kenianer Eliud Kipchoge in neuem Streckenrekord von 2:05:30 und die Litauerin Diana Lobacevske in 2:29:17. Wäre Kipchoge nur eine Sekunde schneller gewesen, hätte er noch eine Sonderprämie von 25.000 EUR gewonnen. So muss er sich mit den 37.000 EUR für den Sieg und den Streckenrekord zufrieden geben. Ist er aber auch, denn für einen Kenianer ist das eine Menge Geld!

Unsere deutsche Hoffnung Lisa Hahner ist bei Kilometer 8 über einen ihrer Tempoläufer gestürzt und musste fast den ganzen Marathon mit blutenden Knien laufen. Trotzdem hat sie in 2:31:49 noch einen respektablen 4. Platz gemacht, aber die Qualifikationszeit für die WM in Moskau hat sie leider um etwas über eine Minute verfehlt.

Ich bin diesmal auf Gesamtplatz 8720 (von 11.448 Finishern) gekommen, bei den Männern Platz 7246 (von 9006) und in der Altersklasse M55 Platz 422 (von 592).

Und als wir nach einer Pause im Hotel wieder losziehen, um in die Stadt zu fahren, sehen wir die letzte Läuferin: es ist Caitriona Quinlan aus Großbritannien. Sie kommt in 6:54:57 ins Ziel und wird vom gesamten Tross der Helfer und Sanitäter begleitet. Später im Interview sagt sie: „das war mein erster und letzter Marathon“. Aber da kenn ich viele, die das schon gesagt haben …