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Gondo-Event, 2. Tag

Als um fünf Uhr früh das Licht angeht, bin ich längst wach. Start ist heute um 7:00. Schnell bin ich gewaschen und rasiert und wage einen Blick nach draußen: letztes Jahr hat es in Strömen geregnet, aber heute sieht es eigentlich ganz gut aus. Der Himmel ist fast wolkenlos (aber noch ziemlich dunkel). Später erfahren wir, dass es nach Mitternacht ein heftiges Gewitter gegeben hat, von dem wir im Bunker rein gar nichts mitbekommen haben.

Nach einem netten Frühstück mit den anderen Läufern packe ich meine Sachen zusammen, erkläre Max Frei noch den Streckenverlauf für den zweiten Tag und frage ihn, was er sich für heute vorgenommen hat. Er meint: „egal, Hauptsache ich werde nicht mehr überholt“.

Am zweiten Tag wird ein „Jagdstart“ durchgeführt: der schnellste Mann und die schnellste Frau vom ersten Tag dürfen um 7:00 Uhr starten. Die weiteren Männer und Frauen folgen im Abstand ihres Rückstandes, bis wir normale Läufer um 7:30 dann auch alle starten dürfen. So ist sichergestellt, dass im Ziel in Gondo tatsächlich der erste Läufer auch der Gesamtsieger ist.

Ich bin sehr guter Dinge. Schon im letzten Jahr ging es mir am zweiten Tag sehr gut, das Wetter ist schön, ich habe meine besten Schuhe an, was soll also schon passieren?

Und dann geht’s auch schon wieder los. Nach einem kurzen Stück durch den Ort steigen wir auch schon wieder mehr oder weniger steil in den Berghang hinein. Die Strecke ist am zweiten Tag einfach phantastisch, ich bin wie im letzten Jahr begeistert.

Bald biegen wir in das Gantertal ab, das von der größten Straßenbrücke der Schweiz, der Ganterbrücke überspannt wird. Wieder eine Zusatzschleife, um die Marathondistanz zusammen zu bringen.

Heute laufe ich häufig mit Bernd zusammen. Er war im letzten Jahr im Gesamtklassement einen Platz vor mir. Bergauf bin ich stärker, dafür hüpft er bergab wirklich wie eine Gazelle – beneidenswert! Noch ein schnelles Foto von ihm, bevor wir unter der alten Ganterbrücke durchlaufen und dann geht es auch schon wieder aufwärts. Thomas, ein Schweizer, gesellt sich zu uns und so traben wir schön langsam bis zur ersten Versorgungsstelle. Dort will ich die Straße weiter laufen, aber der Rennarzt dirigiert mich höflich, aber bestimmt auf den Trail. Aber gerne! Wer will bei diesen Trails schon Straße laufen?

Kurz müssen wir aber doch noch auf, bzw. neben die Straße. Die nächste Versorgungsstelle naht, an der Kerstin auf mich wartet und vor mir schon lauter schnellere Läufer begrüßt hat.

Vor der Cola steht noch mal ein kurzer knackiger Aufstieg. Kerstin bekommt ihren Geldbeutel und ich mein Wasser, meine Cola und meine Orangen. 13 km und bereits 930 Hm sind in 2:10 geschafft.

Nach einer kurzen Pause starte ich zum ersten Downhill des heutigen Tages.

Der ist ziemlich schnell auf einem guten Forstweg absolviert. Jetzt kommt der lange Anstieg zum Simplonpass, wieder auf sehr interessanten Trails immer hart am Fluss entlang. Weit oben sind die Galerien der Straße zu sehen. Und hier sind auch die ersten Nordic Walker auf der Strecke, die in Brig zwar nach uns gestartet sind, aber eine viel kürzere Strecke laufen. Leider trübt sich das Wetter zusehends ein. Nicht mehr lange und es wird regnen.

Nach insgesamt 18 km und 1380 Hm komme ich zusammen mit meinem Schweizer Namensvetter auf dem Pass an. Wilma, Christian, Susanne und Georg schaffen es vor uns, aber auch wir sind mit 3:04 weit vor dem Zeitlimit von 4:30.

Ich halte mich nicht lange auf, denn hier pfeift der Wind und die ersten Tropfen fallen schon. Kurz schau ich zum großen Steinadler hoch, dem Wahrzeichen des Simplonpasses und dann lauf ich weiter. Jetzt kommt ein schöner Streckenabschnitt: auf den nächsten 12 km bis Gabi wird es leicht bergab gehen. Es ist der gleiche Streckenabschnitt, den wir am Vortag bergauf gelaufen sind. Mir geht es blendend und ich kann Gas geben. Nachdem ich den Alten Spittel passiert habe, fängt es heftig zu regnen an. Der Hohlweg, in den ich jetzt laufen soll, gleicht einem gut gefüllten Flussbett. Darauf habe ich aber keine Lust, so springe ich über ein Mäuerchen und laufe auf der Wiese daneben. Die ist zwar auch pitschnass, aber man watet wenigstens nicht durchs Wasser. Nach einem Kilometer wieder ein beherzter Sprung über die Mauer (nur 50 cm hoch) und weiter. Vor mir werden Walker gerade aus einem Auto mit Regenjacken versorgt. Darauf habe ich noch keine Lust und mache auf den nächsten 2 km, die sehr flach auf einem alten Straßenabschnitt verlaufen, noch mal richtig Tempo. Dann wird der Regen aber so heftig, dass ich am nächsten Bauernhof doch meine Regenjacke anziehe. Kurze Zeit später laufe ich über eine steile Wiese bergab nach Simplon-Dorf ein (meinen Speedcross sei Dank, dass ich hier nicht ausrutsche).

Auch diese Versorgungsstelle sieht mich nur kurz und Gott sei Dank ist trotz des Regens kein Wort von einem Rennabbruch (das ist vor ein paar Jahren hier schon einmal passiert). Ich düse also weiter bis zur nächsten Versorgungsstelle nach Gabi. Dort kann ich noch Georg und seinen Begleiter überholen und dann mache ich mich an den Aufstieg zum Furggu. In Zahlen: 3 km und 700 Höhenmeter! Steil – steiler – noch steiler. Aber der Regen hat aufgehört. Trotzdem lasse ich die Jacke an, denn so warm ist es jetzt gar nicht mehr und ich bin ja auch schon total durchnässt. Der Weg nach oben ist neblig und ich bin ganz allein. Einmal denke ich, ich hab mich verlaufen und laufe wieder ein Stück zurück, denn ich sehe keinerlei Markierung. Aber von unten kommen schon die nächsten, kann also hoffentlich nicht falsch sein. Eine gefühlte Ewigkeit später kommt dann wieder die Markierung und ich bin beruhigt.

Ich brauche heute fast 55 Minuten bis oben (letztes Jahr waren es nur 45 Minuten). Die braven Helfer an der Versorgungsstation kann man bei diesem Wetter nur bemitleiden.

Ich versorge mich gut, denn ich weiß, dass nun ein Abschnitt kommt, der meine ganze Aufmerksamkeit fordern wird. Trotzdem kommt in der Zwischenzeit keiner der anderen Läufer hier oben an. Ich bedanke mich noch mal herzlich bei den Helfern und etwas wackelig geht es auf einen der besten und schwierigsten Downhills, die ich kenne. Die Strecke gehört zum Tollsten, was die Berge zu bieten haben.

Nach 10 Minuten habe ich mich ans Bergablaufen gewöhnt und renne jetzt wie im Rausch. Es ist einfach toll. Ich bin von der Strecke restlos begeistert, die kurzen und knackigen Gegenanstiege sind willkommene Gelegenheiten zu einer kurzen Gehpause und ich hab das Gefühl, heute überholt mich keiner mehr bis ins Ziel (im letzten Jahr bin ich noch von 4 Läufern überholt worden).

Und wie ich so in meinem Flow bin, da passiert es: an einer völlig trockenen Felsentreppe stolpere ich über meine eigenen Füße und fliege plötzlich mit dem Kopf nach vorne. Ich denk mir nur noch „das wird jetzt wehtun – nur nichts brechen!“ und da schlag ich auch schon heftig auf, schaffe es aber, mich gut zur linken Seite abzurollen (rechts ging‘s zum Abgrund …). Nach einem lauten Schrei bleib ich erst mal kurz liegen und fühle in meinen Körper hinein – scheint alles noch heil zu sein. Offenbar bin ich auf das rechte Knie gefallen, denn es tut höllisch weh und blutet. Außerdem hat es den linken Oberarm erwischt, da habe ich einen ziemlich großen blauen Fleck. Am linken Bein ist die Stulpe zerrissen und das Schienbein blutet etwas. Aber sonst ist alles o.k. Hui, das hätte aber viel schlimmer ausgehen können! Ich sortiere mich noch einen Moment und laufe dann vorsichtig weiter.

Der Rausch ist jetzt natürlich verflogen und das rechte Knie tut bei jedem Schritt ziemlich weh. Aber es hilft nichts. Es sind jetzt noch 5 km bis ins Ziel, die schaffe ich auch noch. An der letzten Versorgungsstelle fragen sie mich, ob sie die Wunde desinfizieren sollen. Ich lehne dankend ab – das kann ich Ziel auch noch machen und dann tut das ja noch mehr weh. Die letzten 2 km ziehen sich. So richtig kann ich das jetzt leider nicht mehr genießen. Im Tal höre ich den Start zu den Kinderläufen. Auf den folgenden Steintreppen, die sehr nass sind, rutsche ich noch mal aus – noch ein paar blutige Schrammen mehr am Schienbein. Aber das tut eigentlich nicht mehr weh, ärgert mich nur. Und dann endlich das Ziel.

Ich hab’s wieder mal geschafft. In 7:07:09 und hab damit witzigerweise auch am zweiten Tag genau 19 Minuten länger gebraucht als im letzten Jahr. Wilma, Christian und Erwin haben es natürlich um Einiges vor mir geschafft, aber seit dem Furggu bei km 33 hat mich trotz meines Sturzes niemand mehr überholt. Georg und Bernd kommen erst nach mir ins Ziel und diesmal schaffe ich es, in der Ergebnisliste direkt vor Bernd zu stehen.

Ich troll mich erst mal unter die (eiskalte) Dusche, dann lass ich meine Wunde am Knie versorgen (alles andere sind tatsächlich nur Kratzer) und gönn mir noch eine Massage. Kurz vor der Siegerehrung fängt es wieder heftigst zu regnen an, so dass die Siegerehrung kurzerhand in das Zelt verlegt wird. Beim Gondo-Event gibt es ja für jeden Finisher eine ganz besondere Medaille: einen runden Bergkäse.

Max Frei hat seinen Vorsprung souverän verteidigt und siegt auch am zweiten Tag mit 4:15:11. Wie fast jeder hat auch er am zweiten Tag fast 30 Minuten länger gebraucht als am ersten Tag. Zu einem neuen Streckenrekord hat es aber nicht gereicht, sehr zur „Freude“ von Martin Schmid, der dieses Kunststück im letzten Jahr geschafft hat und heute nur den Kinderlauf begleitet hat (der Swiss Alpine steckt ihm noch zu sehr in den Knochen). Bei den Frauen siegt die Schweizerin Anita Lehmann, die ebenfalls ihren Vorsprung vom ersten Tag lässig verteidigt: sie hat über 40 Minuten Vorsprung vor der Zweitplatzierten!

Auf Kati muss ich nicht mehr warten. Sie ist auf dem Simplon-Pass angekommen, als dort der Regen und Nebel am Schlimmsten waren und hat sich entschlossen, auszusteigen. Das reut sie zwar später, aber nachdem sie zum Ende hin sicherlich auch in diesen ganz schlimmen Regen gekommen wäre, war es wohl dennoch die beste Entscheidung. Als ich ins Ziel komme, ist sie längst auf dem Weg nach Hause.

Joachim kommt nach 7:58:42 ins Ziel, seine Tochter Sara beißt sich in 9:47:06 durch. Sie sehe ich aber nicht mehr. Sie ist trotzdem nicht die Letzte. Das ist Mayke, eine Holländerin in 10:07:00.

Leider ist das Wetter mehr als ungemütlich und wir machen uns auf zum Hotel, nicht ohne uns vorher noch mit Brigitte zu verabreden. Bei einem schönen Nachtessen lassen wir mit ihr und dem Rennarzt diesen Tag und damit wieder eine wundervolle Laufveranstaltung ausklingen.

Ich glaub, ich muss hier wieder hin…

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