Gondo-Marathon, Tag 1

Nach einer schönen Pastaparty oben im Stockalperturm verbringen wir eine ruhige Nacht. Irgendwann denke ich, es regnet draußen, aber es ist nur der Wasserfall, der dieses Jahr ziemlich wenig Wasser führt. Am nächsten Morgen treffen wir dann am Start wieder viele Bekannte. Inge ist wieder dabei und zum ersten Mal seit langem auch wieder die von mir so getauften „Goms-Zwillinge“ Josianne und Patricia. Patricia hat ein paar Jahre ausgesetzt und zwei Kinder zur Welt gebracht. Nun ist sie wieder dabei und hat als „Bodyguard“ ihren Mann Daniel mitgebracht. Die Drei werden zusammen laufen.

Nach dem gewohnt lustigen Briefing durch Brigitte erfolgt der Start pünktlich um 8 Uhr. Ich gehe es zusammen mit Inge ganz hinten im Feld gemütlich an. Es geht ja sofort ordentlich hoch und da verzichten wir auf das Joggen.

Kurze Zeit später mache ich einen richtigen Anfängerfehler: noch ganz beschwingt von meiner überraschend guten Leistung beim Zermatt-Marathon, gebe ich Gas. In Zermatt bin ich die ersten 21 km in 2,5 Stunden fast vollständig durchgelaufen und so denke ich mir, hier die ersten 18 km auf den Simplonpass in etwa 2 Stunden schaffen zu können. Was ich in dem Moment gar nicht bedenke: in Zermatt sind auf den ersten 21 km nur etwa 600 Höhenmeter zu bewältigen, hier sind es aber über 1200 Höhenmeter auf den ersten 18 km! Außerdem hatte ich mich bei der Rückfahrt vom Gornergrat im total überfüllten Zug mit Corona infiziert und war für 2 Wochen außer Gefecht (zusammen mit Kerstin, die ich natürlich angesteckt hatte). Die Erkrankung hab ich zwar sehr gut und vor allem ohne Folgen weggesteckt, aber an ausführliches Training war in den letzten 2 Wochen vor Gondo natürlich nicht zu denken (zumal es in dieser Zeit schrecklich heiß war bei uns).

 

Ich laufe also viel zu schnell den ersten Streckenabschnitt zur alten Kaserne bei Kilometer 5, wo Kerstin auf mich wartet. Wie immer ist die Streckenführung auf dem Stockalperweg spektakulär. Wir laufen auf, unter oder neben der Passstraße zum Teil über Metalltreppen und auf Metallstegen, durch den Stollen des „Fort Gondo“ aus dem zweiten Weltkrieg und an der ersten Versorgungsstelle nach 4 km vorbei. An der Straße wird gebaut und an einer Stelle müssen wir schon fast kriechen, um unter den Metallstreben des Gerüsts durch zu kommen.

Obwohl ich viel zu schnell unterwegs bin, brauche ich bis zur alten Kaserne über eine Dreiviertelstunde und bin dort schon ziemlich angestrengt. Kerstin fotografiert hier fast jeden Läufer. Eine kleine Auswahl seht ihr hier.

Der nächste Treffpunkt ist Gabi. Das ist nur eine Viertelstunde später und auf dem Weg dorthin überhole ich ein paar andere Läuferinnen. Eine erkennt mich: „Du bist doch der mit den schönen Laufberichten?“ Genau der!

Die weitere Strecke führt durch ein schattiges Waldstück (das Wetter ist sehr sonnig), die „stairway to heaven“ rauf und auf einem schmalen asphaltierten Weg hoch nach Simplon-Dorf, wo die nächste Versorgungsstelle (und Kerstin) auf uns wartet.

Ich bin schon ganz schön fertig und merke, dass ich hier einen gewaltigen Fehler gemacht habe. Leider habe ich jetzt schon sehr viele Körner verpulvert und kann nur noch sehr langsam fortfahren. Kurze Zeit später überholt mich Inge, die sich schon über mein Anfangstempo gewundert hatte. Karl-Walter schafft es aber nicht, mich zu überholen. Allerdings ist er schon stolze 73 Jahre alt!

 

Es geht weiter bergauf nach Engeloch, wo eine kleine Klettereinlage auf uns wartet. Dahinter steht wieder Kerstin, die natürlich auch längst gemerkt hat, dass es mir nicht so gut geht und eine Zuschauerin bittet, mir die mitgebrachte Cola zu geben. Das tut jetzt gut, aber hilft mir leider nur ein kleines Bisschen. Ich hab das ziemlich verbockt.

Karl-Walter ist da deutlich besser drauf als ich. Auf dem weiteren Weg zum Simplonpass überlege ich ernsthaft, ob ich dort das Rennen aufhören soll. Es gibt einen Cutoff auf dem Simplonpass nach 4 Stunden. Ich hatte geträumt, dort nach gut 2 Stunden anzukommen, brauche aber tatsächlich über 3 Stunden dafür. Damit bin ich aber noch weit unter dem Cutoff und so beschließe ich unter den sorgenvollen Blicken des Rennarztes Pablo, es weiter zu versuchen.

Karl-Walter ist etwa 5 Minuten hinter mir, hat aber viel bessere Laune. Mit seinen 73 Jahren läuft er immer noch jede Woche mindestens einen Marathon (darf auch gern ein Ultra sein). Der Mann ist unkaputtbar!

Man kann hier den ersten Marathon auch als einzigen Marathon laufen. Samira ist eine von ihnen. Sie läuft mit einer alten getapeten Knöchelverletzung, die ihr immer mehr Schwierigkeiten bereitet. Der Rennarzt Pablo schaut sich das kurz an, lässt sie nach einer längeren Pause aber weiter gehen. Leider muss sie kurze Zeit später aufgeben und zum Simplonpass zurückkehren. Wenn ich bedenke, wie steil der Downhill vom Bistinenpass runter ist, war das sicher die beste Entscheidung.

 

Als letzte Läuferin der Einzelmarathons taucht noch die Inderin Keerthi auf, deren Vater Rayakamath bereits vor mir den Simplonpass passiert hat. Beide kommen aus Mumbai, machen Urlaub in der Schweiz, haben die Woche vor Gondo eine längere Radtour von über 500 km gemacht und Keerthi läuft hier ihren ersten Marathon überhaupt!! Sie ist zwar langsam, aber bester Laune und auch sie kommt 25 Minuten vor dem Cutoff auf dem Simplonpass an, darf also weiter machen.

Ich kämpfe mich derweil die rund 700 Höhenmeter zum Bistinenpass hoch. Das Wetter ist super, die Sicht fantastisch und wie es so oft ist: mir geht es plötzlich besser und trotz der Höhe von über 2000 Metern (der Bistinenpass ist auf 2417 Metern) kann ich flache Abschnitte schon wieder langsam joggen. Ich hole sogar Inge wieder ein und bis zur Passhöhe bei Kilometer 24 bleiben wir zusammen. Nahezu alle Höhenmeter sind nun geschafft (na ja, „nahezu“).

Ich bin froh, nicht aufgegeben zu haben. Aber hätte ich gewusst, wie es weiter geht …

 

Inge läuft mir bergab sofort davon. Ich versuche auch zu laufen, muss aber immer wieder Gehpausen einlegen. Trotzdem überhole ich noch 2 Marathonis, die ausschließlich nur wandern. Je weiter wir runterkommen, desto wärmer wird es und bei der nächsten Versorgungsstelle sind es schon knappe 30°. Dort kommt Inge plötzlich von hinten. Was ist passiert? Sie hat sich den Magen verdorben und muss nun dauernd austreten. Das ist natürlich sehr unangenehm! Trotzdem ist sie irgendwann nicht mehr zu sehen, da ich immer längere Streckenabschnitte nur noch gehen kann. Ich bin stehend k.o., es ist heiß und obwohl es bergab geht und ich sogar zwei sehr erfrischende Wasserfälle passiere, dauert es eine gefühlte Ewigkeit, bis ich die nächste Versorgungsstelle „Schratt“ erreiche. Hier ist der zweite Cutoff nach 7 Stunden und 30 km. Ich benötige gut 5,5 Stunden, bin also trotz allem immer noch gut dabei.

 

Es geht weiter auf einem gut laufbaren Forstweg, den ich aber komplett nur gehen kann. Wenigstens kenne ich die Strecke sehr gut, so verpasse ich nicht die Abzweigung auf den Single Trail, weiß, dass ich die „Abkürzung“ nicht nehmen darf und kenne aus dem Jahr 2018 schon die alternative Streckenführung an die Saltina.

Dass wir heute nicht den steilen Aufstieg nach Ried-Brig machen müssen, ist nur ein schwacher Trost. Hier unten sind es schon 34°, die Sonne brennt und ich kann nicht mehr, setze nur stoisch einen Fuß vor den anderen. Mir ist klar, dass ich es noch unter 8 Stunden schaffen kann (Zielschluss ist nach 8,5 Stunden) und ich versuche immer wieder, ein paar Meter zu laufen – allein, es geht nicht. Zusätzlich müssen wir am gut gefüllten Briger Freibad vorbeilaufen, in dem sich die Leute im Wasser vergnügen. Das ist seelische Grausamkeit! Als dann das Stockalperschloss auftaucht, weiß ich, dass ich es wirklich gleich geschafft habe.

Kerstin hatte ja genügend Zeit, in unser Hotel direkt am Ziel einzuchecken (dem Stockalperhof) und kann nun ganz viele Läufer und Läuferinnen ins Ziel kommen sehen.

Mein Namensvetter Thomas schafft es in knapp unter 6 Stunden (5:59:30). Tolle Leistung!

Matthias hat’s besonders schwer: er muss seine beiden Kinder ins Ziel tragen!

Und irgendwann bin dann auch ich an der Reihe. Ich zwinge mich, die letzten Meter zu laufen und erreiche das Ziel nach 7:52:31 in der Gewissheit, am nächsten Tag auf gar keinen Fall starten zu können. Aber immerhin war ich etwas schneller als 2018, als ich mit einem sehr schlechten Fitnesszustand 8:19:39 benötigt hatte.

Karl-Walter ist 5,5 Minuten nach mir und damit auch noch unter 8 Stunden im Ziel, sieht aber viel besser aus.

Und als ich schon im Hotelzimmer bin, hören wir, wie die letzte Läuferin des Marathons, nämlich die junge Inderin Keerthi ins Ziel kommt. Mit 8:18:45 ist noch innerhalb der Zielschlusszeit angekommen und gerade rechtzeitig zur Siegerehrung. Da es nur 3 Läuferinnen ihrer Altersklasse gibt, belegt sie Platz 3 und darf sich über einen kleinen Preis freuen.

Was für ein Tag! Mein Anfängerfehler hat mich mindestens 45 Minuten gekostet, vielleicht sogar eine Stunde. Ich bin zwar überzeugt, am nächsten Tag nicht starten zu können, aber ich will erst mal abwarten, wie es mir geht. Wegen des Jubiläums haben wir Gutscheine für ein Essen in Brig bekommen, zusätzlich zum gebuchten Abendessen in Ried-Brig. Für diejenigen, die vor ein paar Stunden angekommen sind, war das bestimmt super, aber ich hab damit 2-mal Abendessen, was eigentlich zu viel ist. Egal, das Abendessen in Ried-Brig ist trotzdem ein Pflichttermin, denn man trifft ja alle Läufer dort wieder. Da an der alten Schule eine große Baustelle ist, essen wir in der neuen Turnhalle, in der eine drückende schwüle Hitze herrscht. Dafür ist das Essen, das wie immer von der Metzgerei Stocker ausgegeben wird, gewohnt hervorragend.

 

Christian, der mich beim Downhill noch vor Schratt überholt hat und mir dort versprochen hat, mir im Ziel ein Bier auszugeben, hält Wort und so stoßen wir auf einen für mich nicht ganz so erfolgreichen ersten Tag an.

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